Ramadan II: Laylat al-Qadr

5. April 2024

„Wir haben ihn (den Koran) in der Nacht der Bestimmung herabgesandt. Aber wie kannst du wissen, was die Nacht der Bestimmung ist? Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate. Es kommen die Engel und der Geist in ihr mit der Erlaubnis ihres Herrn mit jeder Angelegenheit herab.  Sie ist (voller) Heil (und Segen), bis die Morgenröte sichtbar wird (w. aufgeht).“ (Sure 97: Vers 1–5)

Laylat al-Qadr (die Nacht der Bestimmung / die Nacht der Macht) ist für Muslime einer der wichtigsten Tage des Jahres. Es ist jener Jahrestag, an dem der Erzengel Gabriel erstmals an Mohammed herantrat, um ihm die Botschaft Gottes zu offenbaren. Wann dieser Jahrestag ist, weiß niemand. Islamische Gelehrte verorten ihn an einem ungeraden Kalendertag innerhalb der letzten zehn Tage des Monats Ramadan (also am 21., 23., 25., 27. oder 29. Ramadan). Traditionell wird er aber am 27. Ramadan, also im Jahr 2024 am 5. April gefeiert. An diesem Tag sind praktizierende Muslime bestrebt, ihre Nacht mit religiösen Ritualen und Andachten zu verbringen.

Worte mit der Wurzel qāf dāl rā (ق در) wie eben bei Qadr (Bestimmung) meinen im Koran häufig „etwas zu bestimmen“, bezeichnen ein Ermessen/ein Maß, oder bedeuten: „fähig zu sein“. Diese Wortbestimmungen werden reflektiert in einer Fülle islamisch-philosophischer Abhandlungen zum Thema Willensfreiheit und zur Möglichkeit des Menschen, Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen.

Der Glaube an die Vorherbestimmung gehört für die meisten Muslime zu den sechs Säulen des Glaubens (nicht zu verwechseln mit den fünf Säulen des Islam). Doch der genaue Inhalt und die Tragweite dieser Überzeugung sind nicht trivial. Gibt es das Schicksal, dann sind alle Taten des Menschen Zeit seines Lebens festgelegt. Inwieweit ist dann eine Belohnung oder Bestrafung für die Taten des Menschen nach seinem Tod gerechtfertigt? Gibt es kein Schicksal, so kann es hingegen auch keinen allwissenden Gott geben, der die Zukunft kennt. Die Wahrheit suchen Gelehrte und Philosophen meist zwischen den Polen einer absolut deterministischen und einer absolut freien Vorstellung des Willens. Etwa wird die Vorbestimmung in den physikalischen Grenzen der menschlichen Existenz gesehen oder in der Natur des Menschen und den damit einhergehenden Neigungen.

Unbekannter Künstler, Der Erzengel Gabriel gibt Mohammed die Verkündigung, aus der illustrierten Ausgabe des Siyer-i Nebi (ein Epos über das Leben des Propheten Mohammed), 1595. Topkapi-Museum, Istanbul

Spätestens seit dem 7. Jhd. v. Chr. beschäftigten sich die Griechen mit der Frage nach der Vorherbestimmung des Weltgeschehens. In der modernen Philosophie basiert ein deterministisches Weltbild auf den Annahmen, dass jegliches Geschehen Naturgesetzen folgt – inklusive neuronaler Prozesse im Gehirn des Menschen –, und dass diese prinzipiell vorhersagbar und beherrschbar seien. Somit wären auch seit Anbeginn des Universums die darin herrschenden Naturgesetze vorherbestimmt. Seit Albert Einsteins Relativitätstheorie und den Erkenntnissen der Quantenphysik kennen aber auch die Naturwissenschaften Formen wissenschaftlich präziser Erkenntnis, die einen Determinismus zwar nicht leugnen, ihn aber mit dem Versuch verbinden, gerade aus ermittelbaren naturwissenschaftlichen Gesetzen Phänomene des Zufalls, der Kontingenz und des Chaos zu erklären. Determinismus und Freiheit stehen einander hier nicht einfach gegenüber, sondern werden auseinander abgeleitet und für vereinbar erklärt.

Auch theologische und philosophische Erscheinungsformen eines strengen Determinismus, die von einer – metaphysisch, naturgeschichtlich oder biologisch begründeten – Vorherbestimmung menschlichen Handelns ausgehen, müssen versuchen, die Existenz des Kontingenten, Chaotischen und Unplanbaren in ihre Entwürfe einzubeziehen. Christliche Theologen der frühen Neuzeit wie Anselm von Canterbury und Petrus Abaelardus versuchten dem Chaotischen und Akzidentiellen, das als bloß Menschliches der Einen Wahrheit Gottes gegenübersteht, ein Eigenrecht zuzugestehen, indem sie den Glauben als vereinbar mit der menschlichen Vernunft betrachteten, die dem Menschen von Gott gegeben sei. Dieses Konzept des Christentums als Vernunftreligion, das teilweise in Auseinandersetzung mit dem Rationalismus von Averroes entstanden ist und insofern von einem christlich-islamischen Austausch zeugt, weist jede Gläubigkeit zurück, die der Mensch als nicht vereinbar mit seiner Vernunft erkennt, und betrachtet die christliche Offenbarung ebenso als Offenbarung des Glaubens wie als Offenbarung der Vernunft, die beide im Wort Gottes (Logos) gegenwärtig seien. In diesem Sinne ist die Prädetermination ein Auftrag und enthält eine an jeden Menschen ergehende Handlungsmaxime, das Offenbarte weiterzutragen, dafür einzutreten und es zu bekräftigen. Das bedeutet aber, dass Determination nicht länger der bloße Gegensatz zur Willens- und Handlungsfreiheit ist. Im Gegenteil ist dem Christen dieser Auffassung gemäß durch die Offenbarung, die ihn auf die offenbarte Botschaft festlegt, die Willensfreiheit gegeben, denn nur als freier Mensch hat er die Möglichkeit, aus eigenem Willen für das durch die Vernunft als richtig Erkannte einzutreten.

Monfredo de Monte Imperiali, Imaginäres Gespräch zwischen Averroes und Porphyr, 14. Jahrhundert. Porphyr hieß ursprünglich Malik und war syrischer Herkunft.

Die Darstellungen der „Nacht der Bestimmung“ in der islamischen Überlieferung hat Ähnlichkeiten mit christlichen Darstellungen der Offenbarung. Auch dass die Verkündigung der Bestimmung als Auftrag begriffen wird, scheint darin angelegt zu ein. Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das offenbarte Wort als Träger des Logos, und gibt es im Koran Ansatzpunkte, um aus der Determination eine individuelle Willensfreiheit abzuleiten? In der islamischen Überlieferung wird das offenbarte Wort vermittelt über den Engel Gabriel den Menschen überbracht. Der Koran versteht sich dabei zugleich als Regelwerk, um die Menschen auf den Pfad der Rechtschaffenheit zu lenken. Die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen wird dabei abhängig gemacht davon, inwiefern diese sich selbst den Möglichkeiten der Veränderung öffnen (13:11 Wahrlich, Allah verändert den Zustand eines Volkes nicht, bevor (die Menschen) nicht das ändern, was in ihnen selbst ist.)

Tatsächlich fordert auch der Koran an mehreren Stellen, die Menschen mögen den eigenen Verstand nutzen, um gemäß den Regeln des islamischen Glaubens leben zu können (10:100 Und er wirft die Schmach auf diejenigen, die ihren Verstand nicht gebrauchen.) Häufig wird die selbständige Gebrauch des Verstandes als Bedingung für die Rechtleitung dargestellt. In der islamischen Überlieferung selbst werden die später als Naturgesetze rationalisierbar gemachten Naturerscheinungen als Gesetze Gottes beschrieben. (24:43: Hast du nicht gesehen, daß Allah die Wolken einhertreibt, sie dann zusammenfügt, sie dann aufeinander schichtet, so daß du Regen aus ihrer Mitte hervorströmen siehst?) Der Glaube an die Prädetermination lebt auch unabhängig davon fort im Glauben an Wunderheilungen oder an Heilige, die auch nach dem Tod Einfluss auf die Lebenden nehmen. Die göttliche Macht, die durch Gebete angerufen werden kann, ist von diesem magischen Verständnis von Naturprozessen allerdings unterschieden.