Die erste der fünf geplanten öffentlichen Tagungen der Österreichischen Islamkonferenz, die am 16. Dezember 2023 in Wien stattfand, trug den Titel „Antisemitismus – Jüdisch-muslimische Beziehungen als gesellschaftliche Herausforderung in Europa“.
Sie befasste sich aus empirischer, historischer und sozialtheoretischer Perspektive mit den Ausprägungen antisemitischer Haltungen unter Muslimen und Musliminnen. Übergreifende Fragen, die auf der Tagung teilweise kontrovers diskutiert wurden, waren die nach dem Vorhandensein eines spezifisch muslimischen Antisemitismus sowie nach dessen Ursachen. Besonderes Augenmerk lag darauf, in welchem Maß Aspekte der Sozialisation, lebensgeschichtliche Erfahrungen (oder Nicht-Erfahrungen), die religiöse Lebenspraxis von Musliminnen und Muslimen sowie das im Koran tradierte Bild von Juden bei der Herausbildung und Übernahme antisemitischer Stereotype relevant sind. Ein weiterer Schwerpunkt der Tagung lag auf der Bedeutung von Konzepten der Pädagogik, des interkulturellen Lernens und der Demokratieerziehung, um antisemitischen Ressentiments insbesondere junger Muslime und Musliminnen angemessen begegnen zu können.
Einleitend umriss Mouhanad Khorchide die Fragestellung der Tagung im Rückgriff auf die Arbeitsdefinition von Antisemitismus, die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) erarbeitet wurde. Zentral für die Arbeitsdefinition der IHRA ist, dass Antisemitismus nicht allein als Erscheinungsform des Rassismus, sondern als spezifisches Ressentiment aufgefasst wird, das Strukturen rassistischer Weltbilder aufnimmt und in eine Ideologie überführt, die als verschwörungstheoretisches Welterklärungsmodell dient. Eine Erscheinungsform dieses Antisemitismus ist der als Antizionismus auftretende Hass auf den israelischen Staat. Khorchide ergänzte diese Definition mit dem Hinweis, Antisemitismus werte die Objekte seines Hasses anders als andere Formen der Diskriminierung nicht nur ab, sondern auch auf, indem er Juden als Vertreter allgegenwärtiger abstrakter Mächte imaginiere. Dadurch diene er als ein Welterklärungsmuster, um Verlust- und Risikoerfahrungen der Moderne zu verarbeiten.
Der Soziologe Kenan Güngör, der antidemokratische und gleichwertigkeitsfeindliche Einstellungen unter jungen Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund in Wien empirisch untersucht hat, stellte anhand seiner Forschungen dar, dass egalitätsfeindliche Einstellungen meist in Kombination mit anderen, ähnlich gelagerten Vorurteilen aufträten (z.B. Rassismus, Homophobie, Judenfeindlichkeit und Kollektivismus). Einzig der Antisemitismus zeichne sich aber dadurch aus, dass neben Formen der Abwertung auch Formen der Aufwertung von Juden als Akteuren einer Art von Weltverschwörung träten. Sowohl Ab- wie Aufwertung folgten starren dichotomischen Strukturen (gut/böse, rein/unrein). Bei der Herausbildung antisemitischer Weltbilder wirkten unterschiedliche Faktoren wie soziale Herkunft, Familienhintergrund und Bildungsstand zusammen. Das Vorhandensein einer starken Religiostät habe im Vergleich mit diesen anderen Faktoren einen eher geringen Effekt auf die Festigung antisemitischer Haltungen.
Der Sozialwissenschaftler Abdulkerim Şenel, der das Vorhandensein antisemitischer Einstellungen von Studierenden der Islamischen Theologie in Deutschland und in der Türkei untersucht hat, bestimmte Antisemitismus, ebenfalls unter Bezugnahme auf die IRHA-Definition, statt als Vorurteil als Ressentiment, das sich von Vorurteilen, die prinzipiell durch Erfahrung korrigierbar seien, durch historische Verfestigung und ideologische Verhärtung auszeichne. Er unterschied den über Jahrhunderte hinweg tradierten Antisemitismus einerseits vom sekundären Schuldabwehrantisemitismus, wie er sich in den Nachfolgestaaten des „Dritten Reiches“ finde, andererseits von einem tertiären Antisemitismus, der sich dezidiert gegen den Staat Israel richte. Jüngere Studien zeigten, dass unter jungen Muslimen und Musliminnen neben dem tradierten Antisemitismus besonders die dritte Form hohe Zustimmungswerte erhalte. Şenel stellte die Frage zur Diskussion, ob neben den drei von ihm skizzierten Formen der muslimische Antisemitismus als eine eigenständige vierte Erscheinungsform antisemitischen Ressentiments zu fassen sei.
Ednan Aslan, Professor für Islamische Religionspädagogik, der die Wirkungsgeschichte von antisemitischen Textstellen in Koran, Sunna und Hadithen untersucht hat, ergänzte diese empirischen und soziologischen Befunde durch die texthistorische Beobachtung, dass in den Koran-Darstellungen nach der Hidschra, der Auswanderung Mohammeds nach Medina, die Thematisierungen von Juden besonders zahlreich seien. In Medina lebten zur Zeit Mohammeds etwa 6000 Jüdinnen und Juden, denen 1000 Muslime gegenübergestanden seien, worin er einen Grund für die negative Färbung der Darstellung von Juden im Koran sah, die als Schriftenfälscher und Feinde der Muslime beschrieben würden. Andererseits gebe es, etwa in den Speise- und Reinheitsgeboten sowie der Fastentradition, viele Ähnlichkeiten zwischen Islam und Judentum. Überdies würden die Juden im Koran auszeichnend als „auserwähltes Volk“ beschrieben. Einen rassistisch argumentierenden Antisemitismus habe es im Islam erst ab dem 19. Jahrhundert gegeben, als dieser auch in den europäischen Staaten virulent geworden sei. Wichtig für die Verbreitung dieses rassistischen Antisemitismus, bei der der Korankommentar von Sayyid Qutb eine große Rolle gespielt habe, sei die Muslimbruderschaft gewesen. Angesichts dessen bestehe die Hauptaufgabe der Religionspädagogik darin, den antisemitischen Gehalt solcher Stellen zu thematisieren, zu historisieren und den Schulunterricht auf dieser Grundlage zu reformieren. Mouhanad Khorchide ergänzte diese Empfehlung in seinem Statement mit dem Hinweis, eine diachrone – die historische Genesis der religiösen Texte berücksichtigende – Lesart des Koran vermöge dessen dogmatische Lesarten in Frage zu stellen.
Zsófia Heimann stellte das von ihr vertretene, in Schulen und der Erwachsenenbildung tätige Grazer Zentrum für interreligiöse Kompetenz und interkulturelle Kommunikation „Granatapfel“ vor. „Granatapfel“ veranstaltet Vorträge, Ausflüge und Workshopformate wie „Shalom – Salam – Grüß Gott“ und „Trialog macht Schule“, die auf der Grundlage der Begegnungspädagogik und des interkulturellen Lernens organisiert werden und in gemeinsamen Erfahrungen und Lektüren der Schüler und Schülerinnen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den abrahamitischen Religionen herausarbeiten sollen. Das Angebot werde überwiegend positiv angenommen und befördere den Abbau von Ressentiments, sagte Heimann. Anhand mehrerer Fallbeispiele mit heftigen antisemitischen Aussagen der Schüler und Schülerinnen demonstrierte sie die Abwehr, mit der auf das Bildungskonzept mitunter reagiert werde, sowie Möglichkeiten, auf diese Abwehr zu antworten.
In seinem Abschluss-Statement unterstrich Mouhanad Khorchide die Bedeutung von Möglichkeiten kontroversen Dialogs, um interkulturelle und innermuslimische Debatten lebendig zu gestalten. Die kommenden vier Tagungen und drei Workshops, die im Rahmen der Österreichischen Islamkonferenz geplant sind, sollen auch diesem Zweck dienen.