10. März 2024
2:187 „Erlaubt ist euch während der Nacht des Fastens der (sexuelle) Umgang mit euren Frauen. So sind sie euch ein Kleid und ihr seid ihnen ein Kleid. Gott wusste, dass ihr gegen euch selbst trügerisch zu handeln pflegtet, so vergab Er euch und verzieh euch. Nun verkehrt mit ihnen und trachtet nach dem, was Gott euch vorschrieb. Und esst und trinkt bis für euch der weiße Faden vom schwarzen Faden der Dämmerung erkennbar ist. Dann vollendet das Fasten bis zur Nacht. Und verkehrt mit ihnen nicht (sexuell) während ihr euch in den Unterwerfungsstätten (Moscheen) aufhaltet. Dies sind die Grenzen Gottes, denen ihr nicht nahe kommen sollt. Auf diese Weise macht Gott den Menschen Seine Zeichen klar, auf dass sie achtsam sind.“
Nach islamischem Mondkalender befinden wir uns im Monat Ramadan, auch bekannt als Fastenmonat. In diesem Monat begann die Offenbarung des Koran. Einen Monat lang verzichten viele praktizierende Muslime und Muslima tagsüber – von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang – auf das Essen, das Trinken und den Geschlechtsverkehr. Die Fastenzeit soll die Besinnung und Konzentration der Gläubigen auf die religiösen Praktiken verstärken und ihnen die Nähe zu Gott bewusst machen. Kurz vor Sonnenuntergang treffen sich Gläubige häufig in der Gemeinschaft, um das Fasten durch die Einnahme von Speisen zu „brechen“. Der ganze Monat Ramadan ist das wichtigste Gemeinschaftsmoment des Jahres für Menschen muslimischen Glaubens.
Verhaltensvorschriften, die den Übergang zwischen Enthaltsamkeit und Genuss, Entsagung und Lust regeln, gibt es in allen Weltreligionen, vor allem in Hinblick auf bestimmte Daten und Zeiträume (Feiertage). Ein Umstand, auf den im Koran hingewiesen wird: „Euch ist das Fasten vorgeschrieben, wie es auch denjenigen vor euch vorgeschrieben wurde.“ (2: 183) Gemeint sind hier die religiösen Gemeinschaften, die laut Koran zuvor die göttliche Botschaft erhielten. Im Christentum, besonders im Katholizismus, spielt traditionell die Karnevalszeit in ihrem Verlauf von der Fastnacht über die Fastnachtswoche bis zum Aschermittwoch, mit dem die Zeit des geregelten Regelbruchs endet („Am Aschermittwoch ist alles vorbei“), eine wichtige Rolle. Einige Elemente des Karnevals scheinen – verändert, verschoben und anders akzentuiert – auch beim Ramadan Geltung zu haben: der geregelte Wechsel zwischen Enthaltsamkeit und Selbstentäußerung, Selbstdisziplinierung und -überschreitung, und zwar nicht nur in leiblicher Hinsicht, sondern auch im Sozialverhalten: Rückzug und Introversion wechseln sich ab mit Feiern und Lärm.
Andere Elemente, die im Karneval unentbehrlich sind, scheinen beim Ramadan unwichtig oder sogar untersagt zu sein: Verkleidung, Tanz, Spiel, aber auch temporär legitime, eigentlich verpönte sexuelle Kontakte mit anderen (fremden) Menschen; außerdem Restbestände von Magie und Naturreligion (das öffentliche Verbrennen von Strohpuppen). Damit ist der Karneval eine in den Alltag des Volkes integrierte Form der Säkularisierung heidnischer, ‚unchristlicher‘ Gebräuche. Eine ähnliche Integration nichtislamischer Gebräuche in die Fastenzeit gibt es im Ramadan nicht. Außerdem ist die Abfolge von Enthaltsamkeit und Fest gegenüber dem Karneval eine andere: Dort steht das Fest am Anfang und wird gefolgt von der Fastenzeit, im Ramadan steht das (vom „Fastenbrechen“ unterbrochene) Fasten am Beginn. Abgeschlossen wird der Monat Ramadan mit dem dreitägigen „Zuckerfest“, zu dem traditionell, Freunde und der erweiterte Familienkreis zusammenfinden.
Ein lebensweltlicher Aspekt, der im Karneval wie beim Ramadan Bedeutung hat, ist die Verbindung von Essen und Sexualität bzw. Fasten und sexueller Enthaltsamkeit. Sie erinnert daran, dass sexuelle Lust ebenso wie Hunger ein leibliches Bedürfnis ist, das reguliert, sublimiert, aufgeschoben, aber auch im Exzess momenthaft befriedigt werden kann. Religiös begründete moralische Gebote und Verhaltensregeln haben noch heute eine wichtige Ordnungsfunktion. In diesem Sinne gelten die Zügelung und Selbstkontrolle als wichtigste Aufgabe der Gläubigen vieler Religionen. Im Koran heißt es hierzu in Vers 2:187: „Erlaubt ist euch, in der Nacht des Fastens mit euren Frauen Beischlaf auszuüben; sie sind euch ein Kleid, und ihr seid ihnen ein Kleid. Allah weiß, daß ihr euch selbst (immer wieder) betrogt, und da hat Er eure Reue angenommen und euch verziehen. Von jetzt an verkehrt mit ihnen und trachtet nach dem, was Allah für euch bestimmt hat, und eßt und trinkt, bis sich für euch der weiße vom schwarzen Faden der Morgendämmerung klar unterscheidet!“ Die Fastenzeit kann in diesem Sinne als eine extreme disziplinierende Übung betrachtet werden, in der sich die Gläubigen ihre Bedürfnisse und ihrer Selbstkontrolle bewusst werden. In der Art und Weise, wie diese Übung ausgestaltet wird, unterscheiden sich wiederum die verschiedenen Religionen.
Immer häufiger werden Rituale, die Teil des islamischen Fastens und des Ramadan sind, auch überkonfessionell abgehalten. Hierzu werden auch Nicht-Fastende eingeladen, am Fastenbrechen teilzunehmen oder einander zum Zuckerfest zu besuchen. Der Ramadan steht dennoch stark im Zeichen des Islam. Anders als im Karneval findet beim Ramadan weniger eine Aufnahme nicht zur Religion gehörender Gebräuche in den Festalltag statt, als dass Nicht-Gläubige eingeladen werden, sich temporär am Fastenalltag zu beteiligen: Die säkular Eingestellten passen sich an die Gläubigen an. Lebensweltlich kann daraus ebenfalls ein Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Individuen entstehen: Im Ramadan könnten Menschen verschiedener Religionen, Weltanschauungen, Ethnien und Nationen zusammen kommen, um bei Sonnenuntergang das Fastenbrechen zu zelebrieren. Dadurch ermöglicht er Begegnungen zwischen Menschen, die sonst im Alltag wenig miteinander zu tun haben. Gleichzeitig hört man immer wieder von Fastenden, die eine Fügsamkeit Nicht-Fastender gegenüber den Regeln des Ramadan einfordern – zum Teil gewaltsam und mit einem damit einhergehenden sozialen Anpassungsdruck. Das gesellige Moment, das die Einladung Nicht-Gläubiger zur Teilnahme an den Gebräuchen des Ramadan enthält, wird durch solche Appelle konterkariert. Es ist zu hoffen, dass der Fastenmonat künftig wieder stärker als Einladung und als Zeit des Austauschs zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen entdeckt wird.