Die dritte der fünf geplanten Tagungen der Österreichischen Islamkonferenz fand am 22. Juni 2024 in Wien statt und trug den Titel: „Islam, Demokratie, Leitkultur?“.
Da das gewählte Thema es nahelegte, den diskussiven, auf breite Beteiligung der Öffentlichkeit zielenden Impuls der ÖIK zu betonen, fanden diesmal neben Vorträgen mit anschließender Publikumsdiskussion auch zwei Podiumsgespräche statt, bei denen einzelne Aspekte des Tagungsthemas vertieft wurden.
Mit der Frage nach „Leitkultur“ als einer möglichen Form der Vermittlung zwischen Islam und Demokratie knüpfte die Tagung an einen in Vergessenheit geratenen Begriff an, den der syrisch-deutsche Politologe Bassam Tibi 1994 geprägt hat. Bei Tibi ergänzt der Begriff der Leitkultur sein 1991 als eine Grundlage für multikonfessionelle demokratische Staatswesen entwickeltes Konzept des „Euro-Islam“. Der Gedanke einer Leitkultur zielt nicht darauf ab, dass die christlich-jüdisch geprägte westliche Kultur der islamischen ihre Werte aufnötigt, sondern bezeichnet mögliche Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Kultursphären, auf die demokratische Gemeinwesen sich einigen können müssen, um ihre gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Diesen Gedanken griff Mouhanad Khorchide vom Muslimischen Forum Österreich (MFÖ) in seinem Eingangsstatement auf, um die Problemkonstellation darzustellen, die die ÖIK dazu bewog, das Verhältnis zwischen Islam, Demokratie und Leitkultur zum Gegenstand zu machen. Khorchide unterschied zwei Erscheinungsformen des radikalen Islam, die diesen im Gegensatz zum säkularisierten Islam zu einer Herausforderung für demokratische Staaten machten. Neben dem radikalen Islamismus, dessen Vertreter islamische Gesellschafts- und Rechtsformen wie die Scharia demokratischen Staaten gewaltsam aufzwingen wollten, trete immer stärker ein sich demokratisch gebender „politischer Islam“ in Erscheinung, der die Institutionen westlicher Staaten nutze, um „mittels der Demokratie die Demokratie auszuhöhlen“. Wie auf solche Aushöhlungsversuche, wie sie unter anderem das islamische Netzwerk „Muslim Interaktiv“ unternehme, zu antworten sei, solle auf der Tagung diskutiert werden.
Zwei in vieler Hinsicht konträre Antworten boten Stefan Schmid-Heher von der Pädagogischen Hochschule Wien und Ebrahim Afsah, der Völkerrecht an der juristischen Fakultät der Universität Kopenhagen lehrt. Schmid-Heher meldete Zweifel an einer in idealistischen Begriffen wie „Wertevermittlung“ und „Leitkultur“ fundierten Bildungsarbeit an. Ein problematisches Verständnis von Wertevermittlung zeige sich etwa an den von Teilen der österreichischen Politik vorgeschlagenen Plänen zur Einführung eines Pflichtfachs „Leben in einer Demokratie“. Gegen diesen Plan, der aus Anlass der nach dem 7. Oktober 2023 verstärkt wahrnehmbaren antisemitischen Äußerungen an österreichischen Schulen gefasst wurde und sich grundsätzlich an alle Schüler richtet, aber besonders mit Blick auf Kinder und Jugendliche mit muslimischem Hintergrund diskutiert wurde, wandte Schmid-Heher mit dem Sozialwissenschaftler Oskar Negt ein, dass Demokratie per se immer schon „gelebt“ werde, sofern sie mehr als eine Idee sei. Er diagnostizierte überdies grundsätzlich die Gefahr einer „Versämtlichung“ in Österreich lebender Muslime. Unter „Versämtlichung“ verstand er die Neigung, Muslime allein wegen ihrer Herkunft zu homogenisieren und ihnen, ohne konkrete Erfahrung im Umgang mit ihnen, „Inkompetenz“ in Angelegenheiten des demokratischen Alltags zu unterstellen. Demgegenüber plädierte er für eine demokratische Pädagogik, die ihre Grundsätze „unabhängig von der Herkunft“ ihrer Adressaten vermittle und gerade durch solches Absehen vom Ethnos Autorität beweise. In diesem Zusammenhang erinnerte er an den 1976 in der Bundesrepublik im Rahmen einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung beschlossenen „Beutelsbacher Konsens“. In diesem seien Grundsätze politischer Bildung an Schulen festgelegt worden, an denen auch heute unabhängig von der Herkunft und Sozialisation der Schüler festzuhalten sei, etwa das Überwältigungs- bzw. Indoktrinationsverbot und das „Zugeständnis von Kontroversität“, die es Pädagogen verböten, vorab gefasste Generalurteile als feststehende Lerninhalte zu behandeln, ohne sie im Unterrichtsgespräch kontrovers diskutiert zu haben.
Die Pädagogik der Wertevermittlung kontextualisierte Schmid-Heher in der Tradition der „staatsbürgerlichen Erziehung“, wie sie seit 1949 in Österreich als Teil einer demokratischen Bildung begriffen wurde, die sich als Antwort auf die Erfahrung des Nationalsozialismus verstand. Durch ihren emphatischen Rekurs auf die „christlich-jüdische Tradition“, die die antisemitischen Implikationen des Christentums ausgeblendet habe, und durch ihr Selbstverständnis als „geistige Landesverteidigung“ habe solche Erziehung nicht nur ein idealisiertes Bild des christlichen Abendlandes vermittelt, sondern bilde auch eine schlechte Voraussetzung bei der pädagogischen Arbeit mit Muslimen. Anhand empirischer Untersuchungen von Vorurteilen über „Juden“ und „Muslime“, die Schmid-Heher kontrastierte, aber auch parallelisierte, begründete er, weshalb er den Begriff des „antimuslimischen Rassismus“ als nützlich für die Beschreibung antimuslimischer Ressentiments erachte. So sah er trotz der Differenzen, die zwischen Rassismus und Antisemitismus bestehen, Ähnlichkeiten zwischen dem von Muslimen, aber auch von autochthonen Österreichern in Umfragen häufig bejahten Satz „Juden haben zu viel Einfluss“ und dem Satz „Muslime dürfen Vereine und Organisationen gründen, wenn sie sich an die Gesetze halten“, der negativ unterstelle, dass diese sich im Normalfall nicht an die Gesetze hielten. Außerdem werde, so Schmid-Heher, in konservativen und neurechten Diskursen über islamische Kultur das Wort „Kultur“ häufig als Deckbegriff für „Rasse“ eingesetzt, weil Kultur als etwas das Individuum unabänderlich Prägendes begriffen werde.
Solchen Versuchen, grundsätzliche Kritik an zeitgenössischen Erscheinungsformen des Islam im Westen als Resultat eines antimuslimischen Rassismus zu verstehen, entgegnete Ebrahim Afsah mit einem historischen Rückblick, in dem er begründete, weshalb die Bedrohung, die vom Islam auf die Demokratien des Westens ausgehe, zwar historisch geworden, also nicht naturwüchsig, aber trotzdem objektiv vorhanden und nicht relativierbar sei. Er erinnerte an das in Mogersdorf bei Wien zu besichtigende Museum zum Gedenken an die 1664 stattgefundene Abwehrschlacht gegen den Versuch der osmanischen Invasion, die „die historische Realität der Bedrohung durch Türken und andere Muslime“ vor Augen führe, in der heutigen Geschichtspädagogik aber zu einem „Vielvölkerkarneval“ heruntergespielt werde. Das Gedenken an dieses Datum sei längst „umgewidmet“ worden zu einem pauschalen Friedensgedenken, und an die Stelle der Reflexion auf den Konflikt zwischen Orient und Okzident, wie er sich in den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Habsburger Reich und Osmanischem Reich gespiegelt habe, sei das Gedenken an die Osmanen als Opfer des westlichen Kolonialismus getreten.
Realhistorisch, so Afsah, stelle sich jedoch die Entwicklung der islamischen Welt seit jener Zeit als eine Geschichte der beständigen Enttäuschung eigener Herrschaftsansprüche, des Scheiterns und der mangelnden „Wettbewerbsfähigkeit“ dar. Dem „beispiellosen Aufstieg“ Europas und des Westens seit der Epoche der Aufklärung stehe eine „Stagnation“ der islamischen Welt gegenüber, die insbesondere von der jüngeren Generation von Muslimen als frustrierend empfunden und durch imaginäre Allmachtsphantasien kompensiert werde. Die Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg 1967 habe den ohnehin virulenten Antisemitismus vieler Muslime weiter verstärkt und zu einem kollektiven „Opferreflex“ geführt, der sich in einer „umfassenden Verweigerung von Verantwortung“ nicht nur für das eigene Leben, sondern auch für die eigene Geschichte manifestiere. Dazu gehöre auch die Ignoranz der Geschichte des islamischen Kolonialismus und die Umdeutung der Unfähigkeit islamischer Gesellschaften, sich politisch, ökonomisch und intellektuell dem freien Wettbewerb mit den westlichen Staaten zu stellen, in eine imaginäre Geschichte permanenter islamischer Opferschaft. Individuell schlage sich dies nieder in der Weigerung gerade auch junger Muslime und Musliminnen, für ihr eigenes Leben beruflich und politisch Verantwortung zu tragen, um sich stattdessen als passives, unverantwortliches Objekt von Diskriminierung und Marginalisierung zu sehen. Gerade im akademischen Milieu sei diese Haltung verbreitet: Insbesondere die Thesen von Edward Said, aber auch weite Teile postmoderner Geschichtstheorien wie die von Michel Foucault böten sich als Mittel zur Selbstlegitimation des „Opferreflexes“ an, weil Behauptungen wie die, dass Wissen immer „Machtpositionen“ spiegele und dass Objektivität eine Illusion sei, es vereinfachten, die von Afsah für Muslime als Bedingung ihrer Selbstemanzipation eingeforderte Selbstverantwortung als „imperialistisch“ und „kolonialistisch“ abzuweisen.
Vor diesem Hintergrund, wenn auch aus konträren Gründen, sah Afsah die auf „Wertevermittlung“ beruhende Bildungsarbeit ähnlich kritisch wie Schmid-Heher, allerdings nicht, weil er sich am Idealismus des Wertebegriffs störte, sondern weil ein Widerspruch bestehe zwischen der Beschwörung demokratischer Grundwerte und der werterelativistischen, für die Grundlagen westlicher Demokratie nur zögerlich eintretenden pädagogischen Praxis, die ihre eigenen Prinzipien nicht ernst nehme. Dass es auch in der Sphäre des Rechts Versuche gibt, Menschenrechte unter Berufung auf diese selbst, etwa auf die Religions-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, zu unterminieren, zeigte im Anschluss der Rechtswissenschaftler Imet Mehmedi. Insbesondere, so Mehmedi, bemühten sich islamistische Akteure, die etwa der Hizbollah, Hamas und Hizb ut-Tahrir naheständen, durch eine rechtsmissbräuchliche Inanspruchnahme des Grundrechts auf Religionsfreiheit und weiterer in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verbriefter Rechte, insbesondere der Vereinigungsfreiheit, die demokratische Grundordnung zu unterminieren. Mehmedi sprach in Hinblick auf diese Strategie, die Rechtsordnung demokratischer Staaten zu benutzen, um diese zu unterwandern, von einem „legalistischen Islamismus“.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Klagen solcher Vereine zur Privilegierung ihrer Partikularinteressen jedoch wiederholt abgewiesen oder jedenfalls nicht in deren Sinne entschieden und dies damit begründet, man dürfe sich „nicht auf die Vereinigungsfreiheit nach Artikel 11 EMRK berufen und zugleich das Recht zu Zwecken nutzen, die den in der Konvention festgeschriebenen Werten – insbesondere das Eintreten für eine friedliche Lösung internationaler Konflikte und die Unverletzlichkeit menschlichen Lebens – entgegenstehen“. In solchen Entscheidungen, so Mehmedi, habe der EGMR festgehalten, dass der allgemeine Zweck des Artikels 17, der das „Verbot des Missbrauchs der Rechte“ regelt, darin bestehe, „Individuen oder Gruppen mit totalitären Absichten daran zu hindern, die in der Konvention aufgeführten Grundsätze zur Durchsetzung eigener Interessen auszunutzen“. Vergleichsweise optimistisch resümierte Mehmedi deshalb, dass „sich der Schutzmechanismus in Artikel 17 zur Wahrung des europäischen Wertekanons gegenüber Organisationen des Politischen Islams in der Vergangenheit bewährt“ habe und ein „taugliches Rechtsschutzinstrument“ darstelle, um der Gefahr einer Etablierung von Herrschaftssystemen, die den demokratischen Rechtsstaat ablehnen, im Einklang mit den Grund- und Freiheitsrechten zu begegnen.
Die Gespräche auf den folgenden Podien wurden stark von der Kritik, aber auch Zustimmung geprägt, die sich an Ebrahim Afsahs Thesen über den muslimischen „Opferreflex“ und dessen Rationalisierung durch postmoderne und postkoloniale Theorien entzündeten. Das erste Podium mit dem Titel „Demokratie – Wertekanon oder Recht?“ stellte noch einmal die Widersprüche des Wertebegriffs und dessen Spannungsverhältnis zu juristischen Begriffen in den Mittelpunkt. An ihm nahmen neben Imet Mehmedi und Mirela Memic vom Österreichischen Integrationsfond (ÖIF) der Politikwissenschaftler Fabio Wolkenstein, Vizesprecher des interdisziplinären Forschungszentrums Religion and Transformation in Contemporary Society an der Universität Wien sowie Fatma Akay-Türker, Obfrau der Muslimischen Frauengesellschaft in Österreich und ehemalige Frauensprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich (IGGÖ), teil. Das zweite Podium mit dem Titel „‘Diskriminierung‘ zwischen Recht und Gefühl – Widersprüche und Übergänge“ widmete sich dem zwischen juristischen, moralischen und emotionalen Implikationen schwankenden Diskriminierungsbegriff. An ihm beteiligten sich, neben Ebrahim Afsah und Stefan Schmid-Heher, Fabio Wolkenstein und Fariza Bisaeva, Studentin der islamischen Religionspädagogik und studentische Mitarbeiterin am Institut für Islamisch-Theologische Studien der Universität Wien.
Auf dem ersten Podium konnte vor allem der von den Vortragenden wie auch Teilen des Publikums scharf kritisierte Begriff der „Wertevermittlung“ präzisiert werden. Dieser beziehe sich, so verdeutliche Mirela Memic, nicht allein auf die Verinnerlichung ideeller Grundsätze und stehe nicht exterritorial zur Vermittlung der Kenntnisse bürgerlicher Rechte und Pflichten, sondern habe den Anspruch, Frauen und Männer mit islamischem Migrationshintergrund, insbesondere aus Staaten mit schwachen oder nicht vorhandenen demokratischen Traditionen, mit den ihnen in westlichen Demokratien zukommenden Rechten und den Möglichkeiten, diese einzuklagen, vertraut zu machen. Insofern sei – darin bestand bei den Diskutanten weitgehend Einigkeit – der Begriff der Werte nicht einfach ein Gegen- oder Ausweichbegriff zu dem des bürgerlichen Rechts. Weniger Einigkeit ergab sich auf dem zweiten Podium bei der Frage, in welchem Maß ein in den westlichen Ländern virulenter Kulturrelativismus islamische Radikalisierungstendenzen und deren Legitimation befördere. Ebrahim Afsah wurde seitens des Publikums teilweise vorgeworfen, das kolonialistische Erbe des Westens zu verharmlosen, worauf er mit dem Hinweis auf die arabisch-muslimische Eroberung von außerhalb der arabischen Halbinsel liegenden Territorien antwortete, die heute als Teil der „arabischen Welt“ gälten, womit ihre islamische Kolonialisierung verleugnet werde. Fariza Bisaeva beurteilte Afsahs kritische Sicht auf die postkoloniale Theorie unter Hinweis auf ihre eigene Sozialisation als realistisch, allerdings mit der Einschränkung, der Gestus, muslimische Migranten für ihre Integrationsleistungen zu loben und von ihnen Dankbarkeit zu erwarten, zeuge von einem Paternalismus, der die Integration eher hemme.
Umgekehrt zeuge aber auch, so Ebrahim Afsah, der bei den Bürgern westlicher Staaten immer häufiger zu beobachtende Reflex, jeglichen affirmativen Bezug auf die eigene Nation als „nationalistisch“ zu markieren, von geschichtlichem Gedächtnisschwund. So bringe etwa der dänische Brauch, bei jedem festlichen Anlass die Häuser und Wohnungen oder gar die Geburtstagtorte mit der dänischen Flagge zu schmücken, ein selbstverständliches, gerade nicht nationalistisch borniertes Verhältnis zum eigenen Land zum Ausdruck, das Österreichern wie Deutschen aus historisch nachvollziehbaren Gründen abgehe. Wie Mouhanad Khorchide abschließen bemerkte, sei die Fähigkeit zur selbstbewussten Selbstrelativierung auch eine entscheidende Qualität der pluralistischen Gesellschaft – weshalb sich die kommende Tagung der ÖIK ausdrücklich dem Begriff des Pluralismus widmen wird.