Die zweite der fünf geplanten öffentlichen Tagungen der Österreichischen Islamkonferenz fand am 20. April 2024 in Wien unter dem Titel „Die Frau und das Weibliche im Islam“ statt.
Der Titel deutete die beiden voneinander unterschiedenen, aber miteinander zusammenhängenden Themenkomplexe an, die auf der Tagung behandelt wurden: die Frage nach dem soziokulturellen und politischen Status der Frau in islamischen Gesellschaften wie auch in den westlichen Aufnahmegesellschaften, in denen Migrantinnen aus islamisch geprägten Ländern leben; sowie die Wirkmächtigkeit religiös und kulturell tradierter weiblicher Rollenbilder im Alltag muslimischer Frauen und Männer. Rollenbilder und Imaginationen von Weiblichkeit reflektieren zwar die Lebenssituation von Frauen, bilden sie aber nicht nur ab, sondern können diese Lebenswirklichkeit überdecken und verzerren. Deshalb war die Frage, in welchem Verhältnis das Selbstverständnis muslimischer Frauen zu ihrer Lebensrealität steht und wie der Umgang der Geschlechter durch im Islam vorherrschende Vorstellungen von Weiblichkeit geprägt wird, erkenntnisleitend für die Tagung.
Zu Beginn der Veranstaltung wies Mouhanad Khorchide darauf hin, dass die Thematisierung des Frauenbildes im Islam in der wissenschaftlichen und medialen Diskussion meist von der tatsächlichen oder vermeintlichen Benachteiligung von Musliminnen durch die nichtislamische westliche Gesellschaft bestimmt werde. Innermuslimische Diskriminierung von Frauen finde dagegen weniger Beachtung. Imamin Seyran Ateş, die als Gast an der Tagung teilnahm, wurde von Mouhanad Korchide als eine Vorkämpferin der Gleichstellung der Frau im Islam vorgestellt, die mit der auf ihre Initiative hin gegründeten interkonfessionellen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin für einen auch geschlechterpolitisch liberalen Islam einstehe. Welche Anknüpfungspunkte es in der islamischen Überlieferung für emanzipierte weibliche Lebensentwürfe gibt, welche Hindernisse ihrer Akzeptanz entgegenstehen, und wie diesen Hindernissen begegnet werden kann, wurde in der Folge aus religionsgeschichtlicher, soziologischer, pädagogischer und psychoanalytischer Perspektive diskutiert.
Aysun Yaşar vom Institut für Islamisch-Theologische Studien an der Universität Wien ging am Beispiel der Lebensgeschichten der beiden Frauen des Propheten Mohammed, Chadīdscha und Aisha, der Frage nach, inwiefern diese als innerislamische Vorbilder für weibliche Emanzipation und Mündigkeit (im Sinne Immanuel Kants) verstanden werden können. Chadīdscha sei nicht nur als Kauffrau ökonomisch unabhängig gewesen, sondern habe auch Mohammed gegenüber ihr eigenständiges Urteil und ihre Handlungsmacht bewiesen. So sei sie es gewesen, die dem Propheten einen Heiratsantrag gemacht habe, womit sie aus der Rolle der passiv Wartenden herausgetreten sei. Auch bei der Bestätigung der Offenbarungserfahrung Mohammeds komme ihr eine Schlüsselrolle zu: Nach der Offenbarung war es Chadīdscha, die den verunsicherten Mohammed in der Überzeugung von deren Wahrheitsgehalt bestärkte. Aisha wiederum gelte in der islamischen Überlieferung als Gelehrte und als Kriegerin. In den religiösen Quellen werde immer wieder ihre laute Stimme erwähnt, in der Kamelschlacht von Basra habe sie das Heer angeführt, das allerdings unterlag. Fragen nach der Triftigkeit der überlieferten Quellen und nach der Verschränkung von Erzählung und Imagination in der Überlieferung beantwortete Yaşar, indem sie auf die Bearbeitung der chronikalen Darstellung durch die (männlichen) Verfasser hinwies. Inwiefern dadurch der Vorbildcharakter Chadīdschas und Aishas für eine innerislamische weibliche Emanzipation fragwürdig wird, und ob die Suche nach weiblichen Vorbildern nicht insgesamt zur Forderung nach individueller Mündigkeit im Widerspruch steht, wurde in der Diskussion nicht abschließend beantwortet.
Der Sozialwissenschaftler Abdulkerim Şenel vom Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster ergänzte Yaşars überlieferungsgeschichtliche Befunde mit empirischen Forschungsergebnissen über die Lebenswirklichkeit deutschsprachiger Musliminnen und Muslime. Das Spektrum geschlechterpolitischer Positionen heutiger Muslime reiche vom offen homosexuellen Imam bis hin zum salafistischen Influencer Marcel Krass, dessen bei seinem Publikum populäre aggressive Ablehnung sexueller Freiheit, Selbstbestimmung und Vielfalt Şenel an Beispielen aus Krass‘ Social-Media-Auftritt illustrierte. Die deutlichsten Unterschiede zwischen westlichen und islamischen Gesellschaften zeigten sich bei der Beurteilung von sexueller Liberalisierung und Geschlechtergleichheit, sowohl in Bezug auf weibliche Lebensentwürfe wie auf männliche Homosexualität. Aber auch innerhalb westlicher islamischer Communities lasse sich oft eine Distanz oder gar Ablehnung gegenüber geschlechterpolitischer Emanzipation und sexueller Liberalität erkennen. Obwohl Sprachkenntnisse, Bildungsniveau, Generationenzugehörigkeit und der Grad, in dem sich Muslime und Musliminnen selbst als religiös verständen, starke Auswirkungen auf die Präferenz oder Ablehnung von sexueller Liberalisierung und Geschlechtergleichheit hätten, ließen sich auch unter Personen mit hohem Bildungsgrad oft ähnliche Vorurteilsstrukturen ausmachen. Aus diesem Befund müssten, wie in der Diskussion auch viele Teilnehmer aus dem Publikum bekräftigten, Konsequenzen für die religionspädagogische Ausbildung gezogen werden.
Mirela Memic vom Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) stellte im Anschluss daran die vom ÖIF angebotenen Werte- und Orientierungskurse vor, an denen teilzunehmen für Asylberechtigte und subsidiäre Schutzberechtigte ab dem vollendeten 15. Lebensjahr verpflichtend ist. Innerhalb von drei Tagen werden dabei verschiedene Themenkomplexe behandelt, die für die politische und kulturelle Integration zentral sind: Am ersten Tag stehen die Orientierung auf dem Arbeitsmarkt, Bildung und Spracherziehung im Mittelpunkt; am zweiten die Vermittlung der in der Verfassung festgeschriebenen Grundwerte und demokratischen Prinzipien; am dritten Tag werden die Implikationen des Kulturbegriffs und das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft behandelt. Als leitendes Format diene nicht der Frontalunterricht, vielmehr arbeite der ÖIF dialogisch, um respektvolles Miteinander, Gleichberechtigung und kulturelle Vielfalt auch in der pädagogischen Praxis zu vermitteln. Der Islam und sein Verhältnis zu anderen Religionen würden im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Religionsfreiheit thematisiert. Von praktischer Relevanz sei auch die Behandlung juristischer Fragen, wie etwa das Diskriminierungs- und das Benachteiligungsverbot, sowie Rechtshilfe beim Vorgehen gegen Geschlechterdiskriminierung. Im Anschluss an den Vortrag kam es zu einer lebhaften Diskussion. Kritik seitens des Publikums wurde an der kurzen Dauer geübt, die für die Kurse angesetzt ist, überdies sei fraglich, wie überprüft werden könne, ob beispielsweise muslimische Männer ihre Frauen und sonstige weibliche Familienangehörige davon abhielten, die ihnen in westlichen Staaten zukommenden Rechte gegebenenfalls gegen männliche Familienmitglieder einzuklagen. Memic führte daraufhin aus, dass für jeden, der es wünsche, die Möglichkeit freiwilliger Vertiefungskurse bestehe, und dass Aufklärung über Frauenrechte sehr ernst genommen werde.
In seinem Vortrag über Weiblichkeit und Psychoanalyse im Islam griff der französisch-tunesische Psychoanalytiker Fethi Benslama, der an der Université Diderot in Paris gelehrt hat, sowohl überlieferungs- und imaginationsgeschichtliche Aspekte von Weiblichkeit wie auch Fragen der Soziologie, der Entwicklungspsychologie und Religionspädagogik auf. In seiner beruflichen Praxis, in der ihn viele muslimische Frauen aus verschiedensten Gründen kontaktierten, stelle er fest, dass die Rede von „der Frau im Islam“ zumindest aus psychoanalytischer Sicht wenig Sinn ergebe, weil sie eine Homogenität der Erfahrung und der psychosozialen Dispositionen voraussetze, die nicht gegeben sei. Um dies zu verdeutlichen, stellte er exemplarisch sieben von etwa 30 verschiedenen „Konfigurationen“ weiblicher Selbstverhältnisse vor, die er an muslimischen Analysandinnen unterscheiden könne. Diese Idealtypen bildeten ein Spektrum, das von der Ablehnung des als frauenfeindlich angesehenen Islam bis zum offenen Bekenntnis zum Dschihadismus reiche. Gemein sei diesen Konfigurationen, dass sich alle der analysierten Musliminnen als emanzipiert begriffen. Beobachten lasse sich ein doppelter Begriff von Emanzipation, dessen in sich widersprüchliche Gehalte von den Frauen in höchst unterschiedlichem Grade reflektiert würden: einerseits als Emanzipation von religiöser Unterdrückung und einengenden innerislamischen Normen, andererseits von als fortschrittlich geltenden weiblichen Rollenbildern. Um das Selbstverständnis muslimischer Frauen zu verstehen, müssten beide Emanzipationsbegriffe in ihrer Koexistenz erfasst werden.
Im zweiten Teil seines Vortrags ging Fethi Benslama auf sein Konzept des „Übermuslim“ ein, das vor allem das Selbstverhältnis von Muslimen der jungen Generation betrifft und das er in seinem gleichnamigen Buch umrissen hat. Der „Übermuslim“ zeichne sich aus durch seine brüchig gewordene Verbindung mit dem Islam und durch die daraus entspringende übersteigerte Angst, von der Religion abzufallen, denn die moderne Welt verlange auch von Muslimen eine alltagspraktische und innerpsychische Selbstsäkularisierung. Diese werde von ihnen, auch wenn sie sich selbst als streng religiös begriffen, partiell sogar bereitwillig vollzogen – Smartphones, Internet und soziale Medien ersetzten objektiv auch für gläubige Muslime die Funktionen, die einst der Gottesglaube und die damit verbundenen Praktiken erfüllt hätten. Gleichzeitig bestehe der Glaube an Allah beim „Übermuslim“ in fixierter Weise fort, so dass dieser Sozialcharakter von ständiger Selbstscham und Selbstbeaufsichtigung angesichts seines eigenen Verhaftetseins in der Moderne gepeinigt sei. Auf diese Herausforderung antworte der „Übermuslim“ mit einer redundanten Bezugnahme auf Allah und mit einer freiwilligen Übererfüllung der religiösen Ge- und Verbote, die er auch anderen aufzunötigen suche. Religion werde so – in spezifischer Weise für muslimische Frauen, die die Angebote, die die säkulare Welt ihnen mache, als angstbesetzte Überforderung wahrnähmen – zu einer das Selbst nur vermeintlich stabilisierenden, aber dafür umso heftiger verteidigten Identität.
In der abschließenden Diskussion, an der neben den Vortragenden und Seyran Ateş auch zahlreiche Personen aus dem Publikum teilnahmen, die ihre Erfahrungen im Bereich der Schule, Pädagogik und Erwachsenenbildung einbrachten, hob Mouhanad Korchide hervor, dass es bei der Beschäftigung mit dem Frauenbild und dem Status von Frauen im Islam noch immer eine Kluft zwischen theoretischer Reflexion und Praxis gebe, die zu überbrücken sei. Unter anderem diesem Zweck soll die III. Tagung der ÖIK dienen, in deren Mittelpunkt das Verhältnis zwischen Islam und Demokratie stehen wird.